Abschrift Nov./Dez. 2020:
Dr. Dieter Ising
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Christian Gottlob Barth an das Dekanatamt Calw (Dekan Ludwig Friedrich Fischer). Möttlingen 14.2.1828
Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 26, Bd. 485

Hochwürdiges Dekanatamt
hat von dem Unterzeichneten einen ausführlichen Bericht über die kürzlich hier vorgefallene Krankheitsgeschichte, die in der Umgegend viel Aufsehen erregt hat, verlangt, und ich beeile mich, diesem Verlangen hiemit zu entsprechen.
Margareta Bährin von hier, 11 Jahre alt, Tochter einer armen Wittwe, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christliches frommes Kind, wurde den 19. Januar d[ieses] J[ahres], ohne vorher unwohl gewesen zu seyn, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten, war das Mädchen nicht beim Bewußtseyn, sie verdrehte die Augen, machte Grimassen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und am Montag, dem 21. Jan[uar] ließ sich auch wiederholt eine tiefe Baßstimme vernehmen mit den Worten: "Für dich betet man recht!" - So bald das Mädchen wieder zu sich selber kam, war sie müde und erschöpft, wußte aber von allem Vorgefallenen nichts und sagte nur, sie habe geträumt.
Am 22. Jan[uar] Abends fing eine andere, von der obigen Baßstimme sich deutlich unterscheidende, Stimme an, sich hören zu lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich, so lange die Crisis dauerte, d.h. eine halbe, ganze, auch mehrere Stunden, und wurde nur zuweilen von jener Baßstimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augenscheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens verschiedene Persönlichkeit darstellen und unterschied sich auch von demselben aufs genaueste, sich dasselbe objektivirend undin der dritten Person von ihm redend. In den Aeußerungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste Verwirrtheit oder Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz, die alle Fragen folgerecht beantworteten oder mit Schalkheit von sich wies. Was aber diesen Aeußerungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische oder vielmehr unmoralische Charakter derselben. Stolz, Arroganz, Spott, Haß gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in denselben kund. - "Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland; mich müsset ihr anbeten" - hörte man jene Stimmen zuerst sagen und nachher oft wiederholen. Spott über alles Heilige, Lästerungen gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Unwille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach wiederholt, grimmiges Wüten und Toben beim Anblick eines Betenden oder auch nur bei gefaltenen Händen - das alles konnte man als Symptome einer fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel nennend.
Am 26. Jan[uar] Mittags nach eilf Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das Aufhören dieser Zufälle. Das Lezte, was gehört wurde, war eine Stimme aus dem Munde des Mädchens: "Fahr aus, du unsauberer Geist, aus diesem Kind! Weißt du nicht, daß dieses Kind mein Liebstes ist?" Dann erwachte sie zum Bewußtseyn.
Am 31. Januar stellte sich der vorige Zustand mit denselben Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehrere neue Stimmen hinzu, bis die ganze Zahl dieser von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war, von denen sich jede als die Stimme eines besonderen Individuums geltend machte, und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde. Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u.s.w. erreichte in dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des Bewußtseyns, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an die Vorfälle im Paroxysmus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden seltener und kürzer.
Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Jan[uar] von dem Mädchen als der Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und ähnlich dem erstenmal ließen sich den 9. Febr[uar] Mittags 12 Uhr, nachdem jene Stimmen wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte[!], aus dem Munde des Mädchens die Worte hören: "Fahr aus, du unsauberer Geist! das ist ein Zeichen der lezten Zeit!" Das Mädchen erwachte und ist bisher gesund geblieben.
Ich glaube nun dem Hochwürd[igen] Dekanatamt auch Rechenschaft schuldig zu seyn von dem, was ich als christlicher Seelsorger in dieser Sache thun zu müssen glaubte, um so mehr, da allerlei entstellte Gerüchte z.B. von Exorcismus, Teufelaustreibung und dergl[eichen] in Umlauf gekommen sind. Daß mir nichts von der Art in den Sinn gekommen, muß ich vor allen Dingen versichern. Von vorn herein betrachtete ich die Krankheit ganz pathologisch und verordnete selbst, bis ein Arzt consultirt werden konnte, einige medicinische Mittel, die nicht ohne Erfolg blieben, ließ auch die Kranke durch den Arzt beobachten und sorgte, selbst nachdem ich die psychische Seite der Krankheit erkannt hatte, für ununterbrochene Fortsezung der medicinischen Cur bis auf diesen Tag. Als mir aber nach Anhörung der oben erwähnten Aeußerungen und des oft wiederholten, obgleich ungern abgelegten Geständnisses jener Stimmen die gewisse Ueberzeugung wurde, daß eine dämonische Einwirkung Statt finde; so hielt ich es für nothwendig, dieser finstern Macht auch ein geistiges Mittel entgegenzusezen, nämlich das Gebet, und namentlich hielt ich es für meine Pflicht, das kranke Kind auch in das öffentliche Kirchengebet einzuschließen.
Weder im Worte Gottes noch in der Philosophie fand ich einen Grund gegen die Möglichkeit einer solchen dämonischen Einwirkung, und es schien mir die Annahme einer moralischen Einwirkung von unsichtbaren finstern Kräften, welche in der Schrift gelehrt wird und von der orthodoxen Kirche immer behauptet worden ist, noch größeren scheinbaren Schwierigkeiten zu unterliegen als die einer physischen. Diese Ueberzeugung brauchte ich aber nicht erst auszusprechen, um auch in Anderen, die zugegen waren, denselben Gedanken zu wecken: denn sie kamen Alle von selbst darauf; und derselben vor Anderen zu widersprechen und aus natürlichen Ursachen zu erklären, was sich so augenscheinlich jedem Unbefangenen als Produkt eines fremden Willens aufdrang, wäre gegen mein Gewissen gewesen. Daß ich aber diese Gelegenheit benüzte, um den Anwesenden eine schriftmäßige Ansicht von solchen Erscheinungen beizubringen, werde ich nicht erst versichern dürfen.
Ist es auch auf der Einen Seite zu bedauern, daß die Gerüchte von dem Ereigniß sich so weit und so entstellt verbreiteten, was selbst durch die. größte Vorsicht von meiner Seite nicht verhütet werden konnte; so tröste ich mich auf der andern Seite mit dem sichtbar wohlthätigen Eindruck, den die Geschichte in der hiesigen Gemeinde und besonders auf Einzelne gemacht hat, und bin versichert, daß das Resultat derselben in der Hauptsache für die Beförderung eines ernstlicheren christlichen Sinnes im hiesigen Ort heilsam seyn wird.

Hochwürdigen Dekanatamts
gehorsamst-ergebener

Pfarrer M[agister] Barth.
Möttlingen, den 14. Febr[uar] 1828.



Christian Gottlob Barth
Der Fall der Margareta Bährin aus Möttlingen, 1828
Ein früher Parallelfall zur Heilung der Gottliebin Dittus, 1842-1843